Wenn das Baby schreit, wird es von seiner Bezugsperson gefüttert. Das vegetative System codiert diesen Vorgang und sozialisiert die Organe, die für die Erfüllung zuständig werden. Aggression und Schreien werden belohnt und mit Liebe und Geborgenheit beantwortet. Dieser Prozess der Nahrungsaufnahme unter Einfluss von Frustration oder Freude am Genuss bleibt uns ein Leben lang erhalten. In der Triebtheorie spricht man hier von der „oralen Phase“. Durch diese und ähnliche Belohnungsmethoden sichern wir uns das Überleben. Die vegetative und unbewusste Intelligenz setzt sich dabei durch oder sie entwirft ein Ersatzprogramm, wie das bei psychosomatischen Erkrankungen der Fall ist.
Essstörungen sind deshalb auch Kompensationsversuche im Sinne regressiver Ausgleichsbewegungen. Immer hungrig zu sein bedeutet, dass die Methode zur Konfliktbewältigung über die Nahrungsaufnahme am Ziel vorbeigeht - nur ist das dem Menschen nicht bewusst. Bei der Magersucht werden umgekehrt Appetit und Belohnung verbannt. Solche Zustände kann man deshalb nicht mit Vernunft, also durch rationales Aus- oder Zureden wegerziehen. Die Therapie muss dort eingreifen, wo diese Programme aufgezwungen werden. Sie muss in einem komplizierten Verfahren die Belohnungsansprüche beeinflussen oder austauschen. Dabei muss sie die Tiefe der Hirnfunktionen erreichen und nicht nur die hier unterwertigere bewusste Intelligenz.
Fatale Ersatzprogramme.
Wenn Kinder und auch Erwachsene in einen Zustand geraten, der sie nicht mehr zufriedenstellt, werden Ersatzprogramme, die aus der Vorgeschichte stammen, aktiviert. Hier zeigt sich der wahre Kern mancher Redewendungen, wie etwa „Liebe geht durch den Magen“. Übermäßiges Essen wäre dann ein Ersatzprogramm, das bei Tendenzen zu Übergewicht und Völlerei im Vordergrund steht. Bei Magersucht hingegen entsteht im Verlauf der Triebexperimente oft zu Beginn der Auseinandersetzung mit Sexualität und Körperveränderung eine Bedrohung. Da scheiden sich dann auch die natürlichen Rollenbilder von Mädchen und Buben. Die Introversion dieses Vorgangs und eine mangelhafte Flexibilität innerhalb der Fantasie bzw. der Experimentierbereitschaft drehen das Programm um. Oft wollen die Mädchen dann Kind bleiben. Genuss wird zum Stress und die vegetative Intelligenz reagiert, indem sie auch ein Ersatzprogramm anbietet.
Eine ehemalige Patientin, die ihre lebensbedrohliche Bulimarexie bewältigt hat, beschreibt ihren Gefühlszustand zum Beispiel folgendermaßen:
„Ich bin traurig, einsam und verzweifelt. Ich schwanke zwischen den Sichtweisen. Mein Wissen und mein Verstand sagen mir inzwischen, dass das, was mich runterzieht, die gemeinen Tücken einer Krankheit sind. Vielleicht ist es aber doch lediglich das Symptom innerer Ungereimtheiten und ein Zeichen meiner Schwäche – die Unfähigkeit ein normales Leben zu bewältigen. Ich habe eingesehen, dass nicht alles im Leben meine Schuld ist bzw. ein Zeichen von Schwäche, dass auch ich die Berechtigung habe, meinen Kummer zu äußern, aber ich schaffe es nicht, ohne in den inneren Konflikt zu geraten, der mich dann doch wieder davon abhält“ „Ich schmecke nichts mehr, ich stopfe nur planlos, gefühllos alles in mich rein“.
Der Weg zur Heilung ist mühsam und ohne oft langjährige Unterstützung bzw. Therapie, Begleitung und Krisenmanagement nicht zu bewältigen. Aus diesem Grund zählen Prävention und Früherkennen zu den wichtigsten Maßnahmen und wir fragen uns mit Recht, warum das in einer Zeit passiert, die alle Themen der Entwicklung und Aufklärung offen und liberal angeht. Warum gibt es auf der einen Seite diesen verhängnisvollen Prozess der Ablehnung gegenüber einer maßlosen, übersättigten Welt und auf der anderen Seite die Entwicklung eines Protestes, der sich gegen den eigenen Körper richtet? Ganz eindeutig geht es zunächst darum, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen alle Belohnungssysteme und damit auch alle libidinösen Ansprüche vernichten, abschaffen und bekämpfen. Das Einzige, das zugelassen, ja sogar enorm verstärkt wird, ist die Verlagerung aller Interessen auf Leistung, auch Ergotropie genannt. So kann der vegetative Organismus nicht mehr auf Genuss oder Bedürfnisbefriedigung umstellen. Die Betroffenen bleiben in der Ergotropie, hetzen durch das Leben, joggen, springen, turnen oder lernen bis zur Erschöpfung, quälen und bestrafen sich.
Ursachenforschung.
In der Psychiatrie begründen wir die kausalen Zusammenhänge multifaktoriell, DNA-bezogen, stoffwechselbezogen, hirnorganisch, systemisch und erlebnisbezogen. Ein Problem stellt jedoch insbesondere die Tatsache dar, dass die Mädchen mit Essstörungen immer jünger werden. Die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Landes- und Frauenklinik in Linz, das Therapiezentrum Spattstrasse und all die anderen Institutionen, die sich mit dem Problem befassen, aber auch ich selbst beobachte diesen Trend in meiner Praxis. Daher müssen demografische, kulturelle und soziale Komponenten in die Ursachenforschung einfließen.
Keinesfalls darf man davon ausgehen, dass die Erkrankung immer hausgemacht ist, dass sie also durch Strenge, Pedanterie oder Lieblosigkeit verursacht wird. Anderseits gibt es aber durchaus Fälle, bei denen im Familienmuster Prestigedenken übertragen wird bzw. Verwirklichung über das reine und perfekte Kind stattfinden soll. Kinder müssen schlimm, unordentlich und chaotisch sein dürfen. Nur so bereiten sie sich spielerisch und szenarisch auf die Zeit vor, die eine Unordnung vorschreibt. Und diese Epoche heißt „Pubertät“. Unser Adultismus fordert oft dort Unterwerfung, wo dies unangebracht ist, anderseits gibt es Strömungen und Tendenzen einer Erotisierung von Schlankheit (siehe Modelbilder mancher Agenturen).
In der Pubertät geschehen plötzlich Dinge, die man nicht mehr im Griff hat. Der Körper stellt sich hormonell und biologisch um und diesen Vorgang möchten Kinder mit Prädisposition zur Krankheit beeinflussen. Dies gelingt ihnen jedoch nur über den Hunger. Sie dringen mit ihrem Verstand in eine unbewusst regulierte Steuerung ein und können dann nicht mehr loslassen und der Körper wird zum Feindbild. Wenn Fasten zu einem wahnhaften und berechnenden Diätenzwang führt, können das Gehirn und die endokrinen Drüsen ihre epochenspezifischen und unbewussten Steuerungen nicht mehr organisieren. Die Pubertätsentwicklung wird gestoppt: Die endokrinen, hormonellen Programme werden reduziert und die gonadotrope Ausschüttung, wie zum Beispiel Prolactin, wird gebremst.
Beispiel eines Krankheitverlaufs.
Sandra (frei zugeordneter Name) ist zum Zeitpunkt des Therapiebeginns 14,5 Jahre alt. Vor etwa einem Jahr begann sie, Ausreden zu erfinden, um bei den gemeinsamen Mahlzeiten in der Familie von ihrer Essstörung abzulenken. Sie turnte stundenlang im Zimmer und sie zog sich immer mehr zurück, verlor ihre Freundinnen und vermied Geselligkeiten unter Gleichaltrigen. Ihre Noten wurden immer besser, doch ein Gut oder gar Befriedigung löste heftige Kränkungsgefühle aus. Wenn ihre Mutter sie auf das spärliche Essen ansprach, wurde Sandra oppositionell. Sie ließ sich unbekleidet nicht mehr blicken und zog weite Pullover und Shirts an. Sandra verlor ihre Menstruation und bekam Haarausfall durch den Mangel an östrogener Versorgung. An heißen Tagen fror sie, hatte kalte Hände und ihre Mutter beobachtete, dass Sandra enorme Mengen an Wasser trank. Fürsorge oder Untersuchungen wurden entschieden abgelehnt. Bei der Aufnahme in der Abteilung wog Sandra 31 kg, hatte einen BMI von 13, war ausgekühlt, hatte trockene Schleimhäute und einen ganz langsamen Puls. Die ersten Befunde zeigten eine typische niedrige endokrine Steuerung und einen besonders niedrigen freien T3 (Schilddrüsenhormon).
Hilfe durch eine Therapie
Die Therapie ist meistens erfolgreich, aber auch aufwendig. Die Therapeuten-Patienten-Beziehung erfordert ein klinisches und korrektes Bündnis in professioneller Atmosphäre. Oft kommt es zu Allianzen, die über Jahre wirksam bleiben, und die Therapeuten dürfen sich nicht zurückziehen, wenn nicht gleich ein Therapieerfolg eintritt.
Die Behandlung muss konsequent und unter Einbeziehung der Betroffenen in das Programm erfolgen. Die Schritte werden individuell geplant: Schonungsvolle Ernährung unter ständiger Stoffwechselbilanz, Führen der Gewichtskurve unter positiven oder negativen Verstärkern, Gesprächspsychotherapie, Familientherapie, Leibtherapie und kreatives Gestalten in Mal- oder Tanztherapien sind die Grundpfeiler der Behandlung. Als Essenz jedes Heilverfahrens wäre dann noch die therapeutische Liebe anzusprechen. Die Mädchen fühlen, ob sie jemand annehmen kann oder ablehnt, sie haben hohe moralische Vorstellungen und sind meistens nach Überwindung der schweren Erkrankung ganz hochwertige Persönlichkeiten.
Präventive Schritte
- Eine unverkrampfte Einstellung dem Essen gegenüber kann vorbeugend wirken.
- Essen darf nicht im Mittelpunkt des familiären Interesses stehen.
-Essen ist keine Leistung, es soll nicht als Trostpflaster oder Konfliktregler eingesetzt werden.
- Eltern und Lehrer sollten die Bedeutung des Körpergewichtes nicht überbewerten.
- Aufklärung über Gefahren des SchlankheitskultesKein Heranziehen zum überordentlichen Kind, stattdessen Herausforderungen zu gelegentlicher
Unordnung und Chaos im Spiel
- Körperkontakt und ZärtlichkeitenÜberprüfung der Rollenbilder und Allianzen in der Familie
- Reflexionsfähigkeit der Familie und des Einzelnen (z.B. über Rollenbilder, Bündnisse)
- Konfliktkultur (Konflikte als Bereicherung erleben können)
- Distanz und Nähe (Respektieren der Intimsphäre und Zärtlichkeit)
- Lebensfreude schaffen
- Entwicklungsgerechte Erziehung (z.B. Sexualität, Grenzen und Freiheiten)
- Lebensfreude im Bereich Schule (Projektarbeit vs. Strebertum)
- Peergruppenarbeit
- Diskussionsforum Schule zu Fragen der Lebensqualität von Jugendlichen
WELLNESS WORLD Business, Jubiläumsausgabe 2011