WELLNESS WORLD Business:
Vor einiger Zeit gab es eine Aussage einer Pflegerin auf Ö1, die gemeint hat, wir haben ein sehr gutes Krankheitssystem, aber wir haben überhaupt kein gutes Gesundheitssystem. Wäre es nicht an der Zeit, endlich umzudenken und aus dem Krankheitssystem ein funktionierendes, gutes Gesundheitssystem zu machen?
Prof. Schubert:
Klar. Die derzeitige Schulmedizin wartet – überspitzt formuliert –, bis der Mensch krank wird, und greift erst dann reparierend ein – so wie man das bei defekten Maschinen auch tun würde. Meist sind die Menschen schon alt, und sie werden halt, so gut es geht, zusammengeflickt. Ständig schaut man mit Tests und Apparaturen in die Maschine Mensch und die kleinsten Bausteine seiner Existenz. Der Mensch als biopsychosoziales Wesen wird dabei nicht wahrgenommen, und die größeren ursächlichen Zusammenhänge von bestehenden Symptomen werden nicht betrachtet.
Eine neue Medizin, die auch die oben erwähnte Krankenschwester anspricht, wäre eine Gesundheitsmedizin, die an der Prävention von Krankheiten ansetzt. Das würde bedeuten, dass wir schon ganz früh, vielleicht sogar schon pränatal, also in der Schwangerschaft, mit der Gesundheitsprävention beginnen müssten. Aus der Psychoneuroimmunologie, der PNI, wissen wir, dass Stressoren, die Schwangere erleben, signifikante Auswirkungen auf den Fötus und langfristig auf das Kind haben. Das ist nur ein Beispiel dafür, inwiefern die PNI wichtige Erkenntnisse und Konzepte für eine präventive Medizin leisten kann. Die PNI zeigt, dass kulturelle und soziale Faktoren entscheidend sind bei der Aufrechterhaltung der Gesundheit und der Behandlung von Krankheiten. Schade ist nur, dass sich die Schulmedizin wahrscheinlich nicht von den PNI-Erkenntnissen beeinflussen lassen wird, sondern weiterhin die physikalischen Fächer in den Vordergrund stellen wird und sich damit dem in unserer Gesellschaft vorherrschenden mechanistischen Menschenbild beugt.
Denken Sie hier an den Satz, den ich gerne zitiere: „Ich kann mir nicht leisten, krank zu sein.“ Dieser alarmierende Satz ist Ausdruck einer kapitalistischen, neoliberalen Gesellschaft, die unsere westliche Kultur und damit auch unsere Medizin prägt. Dieser Satz besagt, dass man sich ein natürliches Auskurieren einer Krankheit finanziell oft gar nicht mehr leisten kann, ja es in der Leistungsgesellschaft gar als Schwäche gewertet wird, wenn man krank und pflegebedürftig ist. Deswegen nimmt man dann doch lieber ein Aspirin und tut so, als wäre man gesund, verschleppt damit aber die Krankheit. So aber wird der Weg in Richtung reiner Symptom-Bekämpfung beschritten, und die Ursache der Krankheit wird ignoriert. Das ist ein großes Problem, und die Krankenschwester hat es sehr richtig gesagt, wir brauchen ein neues Gesundheitssystem der Salutogenese – und sollten uns folglich ganz im Sinne von Aaron Antonovsky fragen, was uns gesund hält, und nicht, was uns krank macht.
WWB:
Was, meinen Sie, benötigen die Menschen im Moment gerade am meisten nach dieser Pandemie?
Prof. Schubert:
Mir ist es wichtig, dass gefährliche Pandemie-Narrative, die Angst und Panik verbreiten, eingedämmt und reflektiert werden. Leitmedien müssten angehalten werden, nicht mehr diese grauenhaften Killer-Virus-Narrative auf Kosten der Psyche von Menschen zu bedienen. Wünschenswert wäre eine wissenschaftlichere und sachlichere Berichterstattung. Man könnte beispielsweise sagen: „Schauen Sie, die Omikron-Variante ist nicht mehr so gefährlich, Sie können viel selbst für Ihre Gesundheit tun. Sie können Ihr Immunsystem stärken, indem Sie auf Ernährung, Bewegung und vor allem soziales Miteinander achten. So schaffen Sie eine Herdenimmunität und ebnen einer Endemie den Weg. Aus der PNI-Forschung wissen wir, dass gerade soziale Beziehungen und soziale Unterstützung das Lebenselixier sind, um das Immunsystem zu stärken.“ Das wäre ein völlig neues Narrativ, und das erwarte ich mir von verantwortungsbewussten Mitgliedern des Gesundheitssystems.
WWB:
Jetzt wollen wir endlich das Thema wechseln, weg von der Pandemie, hin zum Thema, das Sie eingangs schon angeschnitten haben: der Trennung von Psyche und Körper, sowie das Soziale. Sie gehen ja davon aus, dass diese Trennung falsch ist. Wie kann man diese Entwicklung eventuell wieder korrigieren, was sollte man tun?
Prof. Schubert:
Ich gehe davon aus, dass Medizin in Abhängigkeit von der Kultur steht. Sie hängt quasi am Faden der Kultur. Ich werde also die Medizin nicht ändern können, wenn ich die Kultur nicht ändere. Viele Menschen wollen wieder in die sogenannte alte Normalität, also in den Zustand vor COVID, zurück. Da schüttle ich nur den Kopf und sage, bitte nicht in die alte Normalität. Wir brauchen eine neue Normalität, eine neue Kultur, die den Menschen nicht als Maschine sieht, sondern von Grund auf menschlich ist, und nicht nur an der Maximierung von Leistung und Quantität interessiert ist. Diese alten Aspekte, die nach kapitalisierter Selbstoptimierung streben, wurden schon fast als Heiligtum angebetet. Es geht immer darum, noch mehr zu wollen: noch höher, noch weiter, noch jünger, noch mehr Geld. Es stellt sich nur die Frage, ob uns das wirklich glücklich gemacht hat oder ob uns die Gesellschaft einredet, dass man nur so glücklich sein kann. Geld hat uns nur pseudo-zufrieden gemacht. Diese Werte müssen sich verändern, wir müssen Werte entwickeln, die den Menschen als Ganzes adressieren, als biopsychosoziales, naturverbundenes Wesen. Wir sehen die Geld- und Technikhörigkeit einer menschenentfremdeten Medizin und Kultur so schön an den Impfungen gegen COVID, die als einziges Heilmittel in der Pandemie tituliert werden. Für mich ist das einzige Heilversprechen aber die natürliche Genesung, das ist das Wesentliche bei diesem Virus, insbesondere bei den neueren schwächeren Varianten.
Dass die Technik über die Natur gestellt wird, ist ein großer Fehler. Da müssen wir umdenken und ein neues Miteinander schaffen, das sich mehr auf soziale Beziehungen fokussiert, auf Ernährung und Bewegung. Wir müssen ursächlich ansetzen, uns die Frage stellen, woher die Symptome eigentlich kommen, wofür sie Warnsignal sind, und sie nicht einfach nur möglichst schnell wegmachen. So wird ein erneutes Auftreten der Symptome nicht verhindert, und es erfolgt keine langfristige Genesung. Das sind alles Aspekte, die ich als sehr wichtig empfinde. Auch Spiritualität, Meditation und ein höheres Bewusstsein sollten in der Mitte einer neuen Medizin stehen und nicht verpönt als Esoterik abgetan werden. Viele Menschen beschäftigen sich mit den Gesundheitspotenzialen, die Spiritualität haben kann, aber wir haben diesen Aspekt kulturell bedingt völlig aus der Medizin ausgeklammert. Bereits vor COVID-19 existierte eine Spaltung zwischen der Schulmedizin und der Ganzheitsmedizin, zwischen kühler Rationalität und Emotionalität. Die einen haben mehr die Gewinnmaximierung und die anderen mehr die Beziehung zwischen Menschen im Vordergrund gesehen. Für unsere Zukunft und unsere Gesundheit ist es fundamental, Menschen in ihrer Komplexität anzuerkennen; emotionale und soziale Faktoren mehr in den Fokus zu setzen und an Menschen nicht wie an Maschinen herumzuschrauben, ohne die Ursache des Problems zu beheben. Ich habe die Vision, dass eine neue Medizin auf zwei großen Pfeilern steht. Einerseits ist es das Wissen um die Komplexität von Systemen, andererseits ist es das Wissen um das Unbewusste, das zu psychosomatischen Erkrankungen führt und mit dem sich die Tiefenpsychologie beschäftigt. Der Student sollte im Medizinstudium von Anfang an mit Kulturwissenschaften, Soziologie, Psychoanalyse und Systemwissenschaft konfrontiert werden.
WWB:
Jetzt komme ich zu dem für die Wellness-Branche wesentlichen Punkt, in der ich arbeite – dem Gesundheitstourismus. Wir haben Wellness-Hotels bzw. Medical Wellness-Hotels, die diese Dienstleistungen, die Sie gerade skizziert haben, teilweise abdecken könnten, um einen neuen Service für den Gast zu bieten, wäre das für Sie denkbar?
Prof. Schubert:
Das kann ich Ihnen sehr gut beantworten, weil ich mich schon seit Jahren neben meiner Beamtentätigkeit an der Medizinischen Universität Innsbruck als Selbstständiger im Bereich Medical Wellness bewege und dort auch Gäste betreue und durchaus sehe, was gut an dem Wellness-Aspekt ist. Der Wellness-Bereich ist ein Ort, an dem Salutogenese stattfinden kann – dort, wo Menschen hingehen und sagen, ich möchte früh beginnen, nachhaltig auf meine ganzheitliche Gesundheit zu achten, nämlich mit Erholung, gesunder Ernährung und Bewegung. Das ist der große Wert dieser Medical-Wellness-Institutionen. Ein Problem habe ich aber dann damit, wenn diese Institutionen letzten Endes nur auf das Beheben von Krankheiten – analog zur Schulmedizin – aus sind. Also ebenfalls nur daran interessiert sind, den Menschen möglichst schnell und effizient in seiner Leistungsfähigkeit zu optimieren und so langfristig der Person eigentlich nicht helfen. Das machen im Übrigen auch bestimmte psychotherapeutische Herangehensweisen, die letzten Endes oft nur schale Problemlösungen anbieten und hauptsächlich auf Verhaltensveränderungen und Symptomverminderungen abzielen. Oft wollen sie Angst und Depression vermindern, um den Menschen schnell wieder funktionsfähig zu machen. Dem Menschen ist damit langfristig aber nicht geholfen. Dort aber, wo Medical Wellness eingesetzt wird, um Menschen ein salutogenetisches Prinzip nahezubringen, und mehr auf die Gesundheit geachtet wird, wo für Zufriedenheit und Glück des Menschen gesorgt wird, sodass er letzten Endes gesünder lebt – dort, meine ich, sind die Entwicklungen sehr interessant. Betreut werden in diesen Institutionen bisher vor allem Menschen, die über die nötigen finanziellen Mittel verfügen, die sich diese besondere Form der Medizin also leisten können. Ich hoffe, dass es künftig ein Umdenken in der herkömmlichen Medizin gibt; dass mehr auf Prävention gesetzt wird und weniger auf Reparatur, und dass dadurch salutogenetisch-orientierte Einrichtungen auch Menschen mit geringerem Einkommen zur Verfügung stehen.
WWB:
Wir haben kurz auch über Gentests gesprochen, die im Wellness-Bereich jetzt immer wieder eingesetzt werden, um genetische Vorbelastungen zu untersuchen. Was halten Sie von solchen Gentests?
Prof. Schubert:
Da Gentests wenig über den tatsächlichen Gesundheitszustand aussagen können, halte ich sie für ein neues Kapitel einer reduktionistisch entfremdeten Medizin. Gentests haben keine tieferliegende Bedeutsamkeit, da wir durch die Forschung der Epigenetik wissen, dass vieles im Leben nicht in Stein gemeißelt ist, wie wir es jahrelang angenommen haben, und sich abhängig vom Lebensstil auch noch mal einiges ändern kann. Für mich ist daher die Frage wichtig: Wie lebt ein Mensch? In welcher Konflikt-Geschichte lebt er sein Leben? Was kann ich von höheren und komplexeren Aspekten seiner Existenz aus für diesen Menschen tun? Diese Fragen betreffen eine bio-psycho-soziale Diagnostik, die sich stark von der biomedizinischen abhebt. Wichtig ist, die Geschichte eines Menschen zu verstehen und die Stressfaktoren zu identifizieren, die, langfristig gesehen, bei dieser einen Person die Lebenserwartung verringern. Im Rahmen der Genetik kann man nicht sagen, was man tun muss, um gesund zu bleiben. Gesundheit ist eingebettet in ein großes Ganzes und hängt nicht ausschließlich von der genetischen Ebene ab. Epigenetik ist aber der Schlüssel zu den Fragen, wie Genetik durch Umweltfaktoren verändert wird, denn darum geht es in der Medizin. Sie ist die Marionette am Faden der Kultur!
WWB:
Gibt es spezielle Dienstleistungen, die Wellness-Hotels ihren Gästen anbieten könnten im Kontext der Salutogenese?
Prof. Schubert:
Natürlich gibt es das, und ich bin ein Verfechter der psychologischen Unterstützung, die jedes Wellnesshotel jedem Gast mehr oder weniger anbieten sollte. Es gibt Gäste, die erfreut sind, dass sie über Themen sprechen können, über die sie normalerweise nicht reden können oder dürfen. Die auch diesen Ort auswählen, wo sie geschützt sind, weil sie mit einer Person sprechen können, die psychotherapeutisch geschult ist. Auf diese Weise wird Menschen ein erster Zugang zu psychologischer Unterstützung geboten, eine erste Entlastung, dass sie sich mal darüber auslassen können, was sie belastet, und sie dadurch eine Beruhigung erfahren. Auch erhalten sie dadurch neue Anreize, wie sie sich um sich selbst kümmern können, wenn sie das Wellness-Hotel verlassen haben. Vielleicht holen sie sich dann auch im Alltag psychologische Unterstützung. Die gezielte psychologische Unterstützung zur Stressentlastung ist momentan in den wenigsten Wellness-Hotels wirklich Thema. Es ist eher das Stoffliche wie Ernährung und Bewegung und das Nicht-Stoffliche wie das Erlernen von Meditationen und Yoga. Solche Ansätze finde ich prinzipiell gut. Jedoch bleiben diese doch sehr stark im Hier und Jetzt verhaftet und beschäftigen sich in den wenigsten Fällen mit den Konfliktthemen des Menschen, die zu chronischen Stressoren im Alltag führen. Doch genau diese chronischen Stressoren können stark ausgeprägt und gefährlich sein, wenn es um Gesundheit und Krankheit geht. Es bedarf folglich psychologischer Angebote, um diesen chronischen Stressoren entgegenzuwirken bzw. präventiv ihr Auftreten zu verhindern.
WWB:
Sie haben auch angedeutet, dass Sie mit dem Lanserhof lange Jahre in Zusammenarbeit sind. Was genau machen Sie da?
Prof. Schubert:
Dort arbeite ich mit Gästen zusammen, die bereit sind, sich mit ihren psychischen Konfliktthemen auseinanderzusetzen. Die ahnen bereits, dass chronische Stressoren durchaus für viel Unwohlsein in deren Leben verantwortlich sind, und sie möchten präventiv wissen, wie sie mit diesen Stressoren, die ihnen zum Teil nicht bewusst sind, in Zukunft umgehen sollen. Es gibt einige Hinweise aus der Literatur, dass dieser Weg der beste ist, um langfristig gesund zu bleiben. Die Gäste wollen ihren Horizont erweitern, und dies erarbeite ich mit ihnen zusammen in diagnostischen Sitzungen. Wobei Diagnostik und Therapie immer ein bisschen zusammenhängen. Gäste gehen aus den Sitzungen mit neuem Rüstzeug, sie haben neue Information über ihre ganzheitliche Existenz und können diese dauerhaft in ihren Alltag integrieren. Sie können aber auch an sich weiterarbeiten und kommen dann oftmals wieder zu mir zurück und geben mir Feedback darüber, wie das, was wir gemeinsam erarbeitet haben, im Alltag funktioniert oder nicht funktioniert hat. So kann man insbesondere mit Stammgästen ganz gut weiterarbeiten. Ich habe positive Erfahrungen mit dieser Herangehensweise gemacht, die dem Menschen ganzheitlich begegnet, und vor allem die Basisfaktoren für das Entstehen von chronischen Alltags-Stressoren herausarbeitet. Das ist die Königsdisziplin, nicht an der Oberfläche zu bleiben, sondern in die Tiefe zu gehen, um auch biografisch relevante Kindheitsbelastungen zu bearbeiten, die sich bis in den aktuellen Alltag weiterentwickelt haben und dort sehr störend für das Aufrechterhalten von Gesundheit sind.
Vielen Dank für das Gespräch Herr Prof. DDr. Schubert.