SPA WORLD Business: Was kann man sich unter der traditionellen tibetischen Medizin vorstellen?
Emchi Dönckie: Die tibetische Medizin ist ein ganzheitliches Heilsystem und zählt zu den ältesten noch lebenden Traditionen der Welt. Zentraler Gedanke im System der traditionellen tibetischen Medizin ist die Wiederherstellung und Erhaltung des Gleichgewichts der drei Körpersäfte (der Körper-Elemente) durch ?sanfte? Heilmethoden.
Für einen ganzheitlichen Gesundheitsprozess müssen viele Faktoren berücksichtigt werden. Dazu gehören auch persönlicher Charakter, Umgebung, Alter und klimatische Bedingungen.
Was versteht man unter den drei Seinprinzipien?
Emchi Dönckie: Die ?drei Seinsprinzipien? sind Manifestationen der 5 Elemente. Man unterscheidet zwischen ?rlung? mit dem Symbol Wind, ?mkhris-pa? mit dem Symbol Galle, und ?bad-kann? mit dem Symbol Schleim. Dem Prinzip ?Wind? werden der Geist, das Denken und sämtliche geistigen und körperlichen Bewegungen zugeordnet. Die Windenergie ist die treibende Kraft hinter den vegetativen Funktionen Atmung, Herztätigkeit und Peristaltik. (Im ?Verdaungszyklus? - neutrale Kraft und entscheidende Rolle im Stoffwechsel)
Dem Prinzip Galle entspricht das Wollen und das energetische und dynamische Wesen aller Lebensvorgänge. (Im ?Verdauungszyklus? ? ?wärmende Kraft?)
Dem Prinzip Schleim entspricht das Fühlen und die Materie. Es manifestiert sich in den körperlichen Strukturen und der Regulation der Körperflüssigkeiten. (Im ?Verdauungzyklus? - dem ?kühlende Kraft?) Nach Auffassung der Tibetischen Medizin sind diese drei Seinsprinzipien eng miteinander verknüpft. Erst ihr Gleichgewicht sichert die Funktion der sieben ?Grundgewebe? und der 3 Ausscheidungen des menschlichen Organismus?. Diese Grundgewebe sind: die Vital Essenz, das Blut, das Fleisch(Muskeln, Sehnen), das Fett, die Knochen, das Knochenmark und die Reproduktionsflüssigkeit. Die 3 Ausscheidungen sind Stuhl, Urin und Schweiß.
Welcher Diagnosemethoden bedient sich die Tibetische Medizin?
Emchi Dönckie: Ausgehend von einer ausführlichen Befragung des Patienten zu Beschwerden, Lebens- und Ernährungsgewohnheiten kommen zwei weitere Diagnosemethoden zur Anwendung. Die Diagnose der Beobachtung, zum Beispiel die Urindiagnose, und die Diagnose durch Tasten, zum Beispiel die Pulsdiagnose. Hier kommt es aber nicht nur auf Schnelligkeit des Pulses an, sondern auch auf die Qualität. Die Pulsdiagnose zeigt Gleichgewicht und Ungleichgewicht im Körper des Patienten an. Das Tastergebnis erlaubt Rückschlüsse auf insgesamt 1600 in der Traditionellen Tibetischen Medizin bekannte Störungen und Krankheiten.
Welche Therapien kennt die Tibetische Medizin?
Emchi Dönckie: In der Tibetischen Medizin sind 4 Hauptgruppen als Therapierichtlinien bekannt. Richtige Ernährung, richtige Verhaltensweise, die eigentliche medizinische Therapie und äußere Anwendungen. Meist in dieser Reihenfolge, d.h. vom Sanften zum Groben. Wichtig ist, dass der Patient zuerst seinen Lebensstil und seine Ernährung ändert, bevor er eine medizinische Therapie erhält. Das wäre eine Behandlung mit Medikamenten, die aus Mischkomponenten von Pflanzen und Mineralien bestehen und auf die gestörten Funktionsprinzipien der drei Körperprinzipien eine ausgleichende Eigenschaft haben. Erst danach werden die äußeren Behandlungen angewandt. Da gibt es auch verschiedene Methoden: den Aderlass, Anbrennungen (Moxa, Kauterisation etc.), Wärme und Kälteapplikationen, Medizinalbäder, natürliche Schlammtherapie, Handmassage und Massage mit Naturgegenständen wie Steine, Bambus etc., Schröpfen, verschiedene Einläufe, Inhalationen sowie eine Brech- und Durchfalltherapie als ?Entschlackung? angewandt mit Kräutermischung.
Was sagt die Schulmedizin zur Tibetischen Medizin?
Emchi Dönckie: Die Tibetische Medizin ist rechtlich nicht anerkannt. Obwohl ich das sehr schade finde, denn es muss doch möglich sein, beide Wege zu akzeptieren. Wir können bei Unfällen oder in der Notfallmedizin mit unseren Kräutern auch wegbleiben, doch umgekehrt sollte uns die Schulmedizin gerade bei der Ursachenbekämpfung akzeptieren. Uns geht es nicht darum, zum Beispiel den Blutdruck zu senken, sondern darum, herauszufinden, warum der Blutdruck so hoch ist.
Ist die Traditionelle Tibetische Medizin mit der Traditionellen Chinesischen Medizin vergleichbar?
Emchi Dönckie: Die TTM gehört neben der TCM und dem Ayurveda zu den drei größten asiatischen Heilsystemen. Doch einerseits gibt es mehr Chinesen als Tibeter und andererseits sind die viel geschäftstüchtiger. Die haben sich schon vor langer Zeit mit der Schulmedizin zusammengetan, darum wird die TCM in Europa auch akzeptiert. Doch TCM ist nicht nur Akupunktur und Ayurveda ist nicht nur Wellness. Diese Einschränkungen sind der Tibetischen Medizin zum Glück erspart geblieben.
Kann man die verschiedenen Heilmethoden miteinander bzw. mit der Schulmedizin kombinieren?
Emchi Dönckie: Ich empfehle jedem, sich für ein System zu entscheiden, das er alleine anwendet. Danach kann er, getrennt vom anderen, ein anderes System anwenden. Kombinationen sind möglich, aber nicht so sinnvoll. Wenn ein Patient ein Medikament von einem Schulmediziner verschrieben bekommt, trauen wir uns nicht, ihm zu raten, es abzusetzen. Obwohl mir oft danach ist, doch dann würden wir rechtliche Probleme bekommen und keinem wäre damit geholfen.
Wir sollten nicht mehr gegeneinander arbeiten, denn schließlich haben wir alle den Eid geleistet, dem Menschen zu helfen und ihn zu heilen. Das hat mit Konkurrenzdenken nichts zu tun.
Vielen Dank für das Gespräch.
Dr. Dönckie Emchi wurde 1960 in Tingri (Tibet) in eine seit acht Generationen tätige Ärztefamilie hineingeboren und absolvierte ihre Schulausbildung in der Schweiz. Ehe sie ihre eigene Praxis in Winterthur eröffnete, war sie mehrere Jahre in Privatpraxen und Spitälern der Schulmedizin als Medizinisch-technische Assistentin in der Schweiz tätig .Im Auftrag des Schweizerischen Roten Kreuzes arbeitete sie für einige Jahre als Unterrichtsassistentin und Mitorganisatorin in einem Medizinischen Hilfsprojekt in Tibet (Shigatse).
Ihr Abschluss-Diplom als tibetische Ärztin absolvierte sie an der Hochschule für Traditionelle Tibetische Medizin in Lhasa/Tibet.