Bedeutet dies das Ende der Kur oder der Heilbäder, die vielerorts auch noch sehr antiquiert erscheinen? Daher haben wir anlässlich des ersten Symposiums „Tiefenwasser als Heilwasser“ in St. Jakob im Defereggental ein Gespräch mit dem Geschäftsführer des österr. Heilbäder- & Kurorteverbandes Dr. Kurt Kaufmann geführt.
WELLNESS WORLD Business: Sie haben über viele Jahre im Kurwesen in Österreich Kompetenz erworben. Wie würden Sie den aktuellen Stand der Kur bezeichnen, wie zufrieden sind Sie mit den Kurbetrieben in Österreich?
Kaufmann: Wir sind derzeit in einer, kann man sagen, Umbruchphase. Kur in Österreich hat eine lange Tradition – von den Römern über viele Jahrhunderte bis zur Gegenwart. Kur ist vor einigen Jahren in Diskussion gekommen, dass Kur bezahlter Urlaub ist und keine Nachhaltigkeitseffekte hätte. Das hat dazu geführt, dass es neue strenge Leistungsprofile gibt im Bereich der Kuranwendungen. Derzeit läuft eine große Ausschreibung der Pensionsversicherung für Gesundheitsvorsorge neu, an der sich unsere Betriebe beteiligen. Für mich ist die Situation der natürlichen Heilvorkommen ein bisschen „problematisch“. In den neuen Leistungsprofilen der Pensionsversicherung kommen die natürlichen Heilvorkommen nur noch unter „ferner liefen“ vor. Sie sind kein wichtiger Bestandteil mehr, wichtig sind Bewegung, Ernährung, psychologische Betreuung und Lebensstiländerung. Daher ist für uns wichtig, dass wir die natürlichen Heilvorkommen promoten und auch betonen, dass der Kurbetrieb ohne diese natürlichen Heilvorkommen nicht existieren würde. Es ist daher enorm wichtig unsere Kurorte auf die veränderte Situation aufmerksam zu machen.
WWB: Wie stehen Sie zum Begriff „Kur neu“? Was stört Sie so an diesem neuen Thema?
Kaufmann: Ich will den Begriff „stören“ nicht kommentieren, da bin ich eher dagegen. Mir ist nur wichtig, dass neben den Faktoren, die ich erwähnt habe – Ernährung, Bewegung, Lebensstilveränderung – auch das natürliche Heilvorkommen den gleichen Stellenwert hat. Dass bei den Leistungen das Heilvorkommen entsprechend berücksichtigt wird. Das Problem liegt darin – diese Heilvorkommen sind alle passiv, d. h. ich lege mich in das Wasser. Heute ist der Trend aber der Aktiv-Urlaub: Nordic Walking, Wandern etc. Ich bin aber der Meinung man kann beides gleichwertig kombinieren und bewerten im Leistungsprofil.
WWB: Sie wollen, dass Heilvorkommen in der Kur den gleichen Stellenwert haben wie sozusagen die moderne, aktive Kur?
Kaufmann: Natürlich, der Nachteil ist, dass die wissenschaftlichen Forschungen immer sehr individuell auf jedes Heilvorkommen abgestellt sind, dass es kaum weiträumige wissenschaftliche Untersuchungen gibt hinsichtlich des Nachhaltigkeitseffekts bei einer Kur. Und das wird natürlich sehr kritisch beleuchtet. Auf der anderen Seite steht die Pharmaindustrie, die Millionen einsetzt für entsprechende wissenschaftliche Studien, die uns fehlen. Die nachhaltige Wirkung in der Kur basiert sehr stark auf Erfahrungswerten. Dazu kommt noch, dass durch die unterschiedlichen Sozialversicherungen der Datenzugang sehr schwierig ist, hinsichtlich der Nachhaltigkeitseffekte.
Sprich, wenn jemand drei Wochen auf Kur geht, muss ich ihn danach praktisch ein Jahr lang oder noch länger beobachten, ob sich ein nachhaltiger Effekt einstellt. Das ist sehr schwierig bei Sozialversicherungspatienten, da wir danach nämlich keine Daten mehr bekommen. Aufgrund des Datenschutzes und der unterschiedlichen Sozialversicherungen.
WWB: Das führt uns zum zweiten wichtigen Thema, wir haben ein Zwei-Cluster-System in Österreich, auf der einen Seite das Sozialversicherungssystem und auf der anderen die private Vorsorge. Welches System würden Sie den Kurbetrieben empfehlen?
Kaufmann: Unser Kurwesen ist in den letzten Jahrzehnten durch Sozialversicherungspatienten verwöhnt worden. Im Gegensatz zu Deutschland, wo die Sozialversicherungskur schon in den 90er-Jahren abgedreht wurde. Es war ein sozialpolitischer Erfolg der Nachkriegszeit, dass der Österreicher noch immer auf Kur gehen kann. Das waren von den Sozialpartnern gewollte, sozialpolitische Errungenschaften. Durch das Diktat der leeren Kassen gab es aber eine Änderung im Denken, auch bedingt durch die Diskussion seit zwei Jahren über die Effizienz der Kur. Daher glaube ich, dass der Sozialversicherungsanteil, der 60–70 Prozent der Kurgäste ausmacht, eher langfristig rückläufig ist. Neben der Kur gibt es aber auch die Rehabilitation. Es wird im Sozialversicherungsbereich die Rehabilitation viel stärker forciert, anstatt die präventive Wirkung der Kur. Man soll auf alle Fälle auch auf den Privatgast setzen.
WWB: Kurz eine Frage zum Thema Prävention. Wie könnte das in einem modernen Kurbetrieb aussehen?
Kaufmann: Mir liegt das Thema Prävention sehr am Herzen. In Deutschland gibt es ein eigenes Präventionsgesetz. In Deutschland kann ich gewisse Aktivitäten als Prävention absetzen, in Österreich nicht. Wir haben bei uns nur eine Reparaturmedizin und nicht die Prävention. Die Kur wäre prädestiniert für Prävention. Also man sollte im Vorhinein, wo ich erkenne, dass es Probleme gibt, mit einer Therapie ansetzen und den Lifestyle ändern. Bei uns geht es aber um reine Reparaturmedizin. Und das ist ein großes Problem – nicht der Kurbetriebe, sondern der Gesundheitspolitik. Das ist eine Forderung, dass man der Prävention viel mehr Augenmerk schenkt als bisher und entsprechende Mittel einsetzt.
WWB: Wie sieht die Zukunft aus? Wir wissen auch, dass dieser Spagat oft schwierig ist zwischen Kassenpatienten und privaten. Wie sehen Sie die Situation in fünf Jahren und was würden Sie den Kurbetrieben empfehlen?
Kaufmann: Ich bin da nicht ganz Ihrer Meinung, dass es hier eine Diskrepanz zwischen den beiden Gästeströmen gibt. Es ist auch von der Sozialversicherung ausdrücklich verboten, den Sozialversicherungsgast gegenüber dem Privatgast zu diskriminieren. Ich glaube, der gesamte Gesundheitstourismus liegt im Trend und hat auf alle Fälle Zukunft. Ich glaube, dass die Gesundheitssparte in Österreich enorm wichtig ist, denn ungefähr 15 Prozent der Gesamtnächtigungen gehen heute bereits in den Gesundheitstourismus. Das sind ungefähr 19 Mio. Nächtigungen derzeit. Es sollten jedoch keine neuen Kapazitäten aufgebaut werden. Denn es beginnt langsam ein Verdrängungswettbewerb. Wir sind ziemlich an der Decke mit den Betten, ungefähr zwischen 6.000 und 7.000 Betten im Kurbereich. Das Wichtigste ist heute daher die Qualität. Es gibt heute Kuranstalten, die haben mehr als Vier-Sterne-Level. Das heißt also, man muss auf die Qualität setzen, dann kommt genauso der Privatgast wie der Sozialversicherungsgast. Man muss sich allerdings davon verabschieden, dass der Privatgast drei Wochen bleibt. Der Privatgast bleibt höchstens eine Woche, kommt aber vielleicht zweimal im Jahr. Man muss daher entsprechend das System der bisherigen Kur von drei Wochen ändern.
WWB: Sie haben Recht: Es gibt in manchen Resorts Vier-Sterne-Niveau. Aber wir wissen auch, dass teilweise der Service katastrophal ist, Schweinsbraten gegessen und Alkohol getrunken wird usw. Diese Dinge gehören eigentlich abgestellt, wenn man das Kurwesen ernst nimmt. Wie sehen Sie das in Zukunft? Sollte es da strengere Kontrollen geben?
Kaufmann: Ich kann nur grundsätzlich sagen, dass unsere Betriebe, aufgrund der neuen Leistungsprofile und der Kontrollen durch die Sozialversicherung – die Betriebe werden unangemeldet kontrolliert – höchste Qualität haben. Wir haben im medizinischen Bereich höchste Qualität. Natürlich gibt es innerhalb der Branche einen gewissen Wettbewerb hinsichtlich Zusatzleistungen und Verpflegung. Wir haben das im Leistungsprofil ausdrücklich drinnen: Es müssen drei warme Mahlzeiten sein, mit entsprechenden Auswahlkriterien, davon mindestens zwei bis drei Menüs. Die Betriebe bieten teilweise zu gutes Essen an, sodass es schwierig ist, abzunehmen. Ich würde das eher als positive Kritik sehen, dass die Leute, die eigentlich abnehmen sollten, durch dieses Überangebot nicht animiert werden abzunehmen. Aber es findet hier ein großes Umdenken im Zusammenhang mit Lebensstiländerung statt.
WWB: Ganz kurz noch abschließend eine Frage bezüglich der Veranstaltung hier. Wir sind ja gerade in St. Jakob im Defereggental. Was halten Sie von dem Symposium, das auf hohem Niveau durchgeführt wird, ist das ein Vorbild für den österreichischen Verband, Ähnliches zu machen?
Kaufmann: Ursprünglich war ich ja sehr skeptisch, heute muss ich sagen, es war eine tolle Veranstaltung. Wir haben auch erlebt, wie zersplittert diese Sache ist. Wir haben hier über Heilwasser in Grins und Heilwasser in St. Jakob erfahren, es gibt aber keine österreichweite Evidenz dieser Heilwässer. Seitens des Verbandes haben wir vor zwei Jahren eine Broschüre herausgebracht mit sämtlichen natürlichen Heilwässern und Luftkurorten. Diese beiden Heilwässer sind jedoch nicht enthalten, obwohl wir oft offiziell bei der Tiroler Landesregierung angefragt haben. Hier gibt es ein Informations-Chaos. Nicht einmal der Tiroler Sanitätsdirektor weiß von diesen beiden Heilwässern. Die sind also in Grins vom Wirtschaftslandesrat und vom Tourismuslandesrat gefördert worden, ohne Wissen des Gesundheitslandesrates oder der Sanitätsdirektion. Das ist leider seit 2002 der Fall, dass dies regionalisiert wurde bis auf die Bezirkshauptmannschaften. Und die Bezirkshauptmannschaften nicht verpflichtet sind, die Information an das Land weiterzugeben. Die Evidenz, die wir früher hatten, ist leider dadurch verloren gegangen.
WWB: Aber noch einmal zurück zur Frage – wäre das dann nicht ein dringender Appell, solche Veranstaltungen zu machen, um dieses Chaos vielleicht ein bisschen in geordnete Bahnen zu bringen?
Kaufmann: Naja, an und für sich machen wir ja jährlich solche Veranstaltungen, die sich sehr stark mit dem Bereich beschäftigen. Momentan planen wir eine Veranstaltung zu den natürlichen Heilvorkommen. Wobei wir hier den Spagat vollziehen müssen zwischen natürlichen Heilvorkommen und unseren Betrieben, die sehr stark von der Sozialversicherung abhängig sind. Wir wollen beides aber zusammen bringen. Mehr Engagement würde ich allerdings von den Bürgermeistern der Kurorte erwarten.
WWB: Kurz noch eine Frage zum Thema Prävention. Wie könnte das in einem modernen Kurbetrieb aussehen?
Kaufmann: Mir liegt das Thema Prävention sehr am Herzen. In Deutschland gibt es ein eigenes Präventionsgesetz. In Deutschland kann ich gewisse Aktivitäten als Prävention absetzen, in Österreich nicht. Wir haben bei uns nur eine Reparaturmedizin und nicht die Prävention. Die Kur wäre prädestiniert für Prävention. Also man sollte im Vorhinein, wo ich erkenne, dass es Probleme gibt, mit einer Therapie ansetzen und den Lifestyle ändern. Bei uns geht es aber um reine Reparaturmedizin. Und das ist ein großes Problem – nicht der Kurbetriebe, sondern der Gesundheitspolitik. Das ist eine Forderung an die Sozialversicherungen und überhaupt an die Gesundheitspolitik, dass man der Prävention viel mehr Augenmerk schenkt als bisher und entsprechende Mittel einsetzt.
Vielen Dank für das Gespräch.
© WELLNESS WORLD Business 5/2017